Polypontes
ein Requiem für Mahsa
Zyklus über Vergangenheit & Gegenwart. Akustik & Elektronik. zwischen iranischen und europäischen Musiktraditionen
dedicated to Mahsa, Kian, Mohammad, Yalda, Nika & Sarina.
Ehsan Ebrahimis elektroakustische Musik kommt aus dem Schmerz. Schmerz ist das Zentrum – unabhängig von individuellen Lebensumständen und universell gültig für jedes Leben, immer und überall. Schmerz ist unvermeidbar, gehört existentiell zum Leben wie auch der Tod. Schmerz ist ungleich umfassender und abstrakter als Trauer.
Schmerz in der Einsamkeit allerdings ist besonders. Schmerz in der Einsamkeit kann sich mit nichts und niemandem verbinden. Ein solcher Schmerz braucht Verbindungen, die aus der Einsamkeit herausführen. Der Zyklus POLYpontes sucht solche Verbindungen. Die Pole, zwischen denen POLYpontes Brücken schlägt, zeigen sich als Orientierungspunkte in der vielfältigen, widersprüchlichen und verwirrenden Landschaft, in der eine sehr spezifische Einsamkeit erwächst – die Einsamkeit von Fremdheit, Entwurzelung, Heimat-Verlust und Sehnsucht.
Die Brücken in POLYpontes bilden ein mehrdimensionales Netz von einander über- und unterkreuzenden Verbindungen. Auf den Wegen über die Brücken begegnen und berühren sich ursprüngliche Gegensätze.
Klassische Musik Mitteleuropas trifft auf traditionelle Volksmusik des Khorasan (einer heute dem Nordost-Iran zugerechneten Region, deren Jahrtausende alte Geschichte von immenser kultureller und religiöser Vielfalt zeugt). In dieser alten persischen Musik wiederum findet sich ein Echo „Alter Musik“ Mitteleuropas wieder. Alte Musik kontrastiert ihrerseits mit dem Klang zeitgenössischer Musik, welche den Spannungsbogen zwischen elektronischen und akustischen Klängen in sich trägt.
POLYpontes spielt mit der Unterscheidung von wahren und verfremdeten Klängen und setzt für die Mischung der Klänge neben elektronisch abgemischten akustischen Instrumenten auch Liveelektronik ein. Im letzten Satz findet Ehsan Ebrahimi Inspiration im 2. Satz von Beethovens 7. Sinfonie, einem Trauermarsch, der einer instrumentale Prozession in düsteren Orchesterfarben gleicht. Diese Komposition von Beethoven wiederum bezieht sich auf den historischen Pavane-Rhythmus, den später auch Schubert in seinem Werk ‘Tod und das Mädchen’ aufgreifen würde. In ‘Sarina’ schafft diese Verbindung über Raum und Zeit hinweg eine musikalische Brücke, die die Erinnerung zu einem lebendigen Denkmal erhebt und gleichzeitig die zeitlose Kraft und Bedeutung der Musik eindrucksvoll hervorhebt.
Eine wiederholungsreiche Vielzahl rhythmischer Pattern erzeugt einen Groove, welcher womöglich auf die Beantwortung der Frage zutreibt, wie denn Verbindung entstehen kann – wie also der Schmerz den Weg aus der Einsamkeit finden könnte. In Ehsan Ebrahimis Komposition führt dieser Weg über mehr als nur eine Brücke – hin zu der Gemeinsamkeit des unvermeidbaren Schmerzes aller. Der Zyklus POLYpontes endet also mit einer Friedensvision.
Jedes der Stücke von POLYpontes ist einem von fünf Menschen gewidmet, die im letzten Jahr in der Revolution im Iran starben:
Mohammad Hosseini wurde 40 Jahre alt. Er war so einsam in seinem Leben, dass es nach seiner Hinrichtung niemanden gab, der seine Leiche hätte begraben können.
Kian Pirfalak starb im Alter von 9 Jahren. Sein Traum war es, ein Wissenschaftler zu werden.
Die 22-jährige Mahsa Jina Amini war die erste Tote der letzten Revolution. Sie starb, weil sie ihr Haar nicht bedeckt hatte.
Nika Shakarami wollte singen. Sie wurde nur 17 Jahre alt.
Das Leben von Sarina Esmailzadeh dauerte 16 Jahre – es hätte langes und ein besseres Leben sein sollen.
Die Musiker*innen des asambura ensembles wagen sich in die Spannungsfelder dieser Dialoge hinein. Sie erforschen sie – mit einer Besetzung aus Flöten, Klarinetten, Trompete, E-Gitarre, Laute, Santur, Akkordeon, Viola, Violoncello, Vibrafon und umfangreicher Perkussion – in vertrauten und neu entwickelten Spieltechniken, unter Einsatz von elektronischer Musik und deren Möglichkeiten, ganz eigene Klänge zu erzeugen.
Die Musik des asambura ensemble tritt in Dialog mit visuellen Produktionen, das Hören mit dem Sehen. POLYpontes ist eine künstlerische Nachricht aus dem Iran, voller Sehnsucht. Im Hier und Jetzt.
Komposition • Ehsan Ebrahimi
Uraufführung • 2023 Hannover • mit Videoinstallationen von Andre Bartetzki
Schirmherr: Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Hannover Belit Onay
Kompositionsauftrag des asambura ensemble, finanziert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung
„Wie sehr aus der Identifikation mit dem Individuellen auch ein großer kollektiver Berührungspunkt entstehen kann, damit beschäftigt sich der Komponist Ehsan Ebrahimi in seinem Werk „POLYPontes: ein Requiem für Mahsa“. Eine tröstliche Verbundenheit entsteht durch das kollektive Erleben menschlichen Schmerzes in Einsamkeit, den er – angestoßen durch die Reaktionen auf die Revolution „Frauen, Leben, Freiheit“ im Iran – musikalisch auszuformulieren versucht. Dafür trifft klassische Musik Mitteleuropas auf traditionelle Volksmusik des Khorasan – einer heute dem Nordost-Iran zugerechneten Region, deren Jahrtausende alte Geschichte von immenser kultureller und religiöser Vielfalt zeugt.
Die Vertonung von individueller Einsamkeit – gezeichnet von Fremdheit, Entwurzelung, Trauer, (Heimat-)Verlust und Sehnsucht – findet musikalisch zunächst in Einzelsätzen Ausdruck und findet erst als Gesamtwerk Trost. Die Einzelsätze von POLYPontes wurden je einem von fünf Menschen gewidmet, die während der Revolution starben.
Für den Komponisten war es wichtig, über Verbindungen und Brücken, die Sprachlosigkeit über das Geschehene zu überwinden. „Mir ging es darum, eine aktive Form der Trauer zu beschreiben und eben nicht um das lähmende Gefühl von Resignation. Vielleicht kommt man dem einzelnen Schmerz so näher, weil (diese aktive Form der Trauer) sofort eine unglaublich starke Intention (zu handeln) mit sich bringt“, berichtet Ehsan Ebrahimi.
Und so verknüpfen sich die „poly pontes“, die vielen Brücken zu einem mehrdimensionalen Netz an musikalischen und menschlichen Verbindungen. Auf den Wegen über diese Brücken begegnen und berühren sich ursprüngliche Gegensätze – zwischen Vergangenheit und Gegenwart, traditionell persischer und europäischer Musik, zwischen akustischen Instrumenten und elektronischer Musik – hin zu der Gemeinsamkeit im unvermeidbaren Schmerz aller. Man könnte also sagen, dass „ POLYpontes: ein Requiem für Mahsa“ mit einer Friedensvision endet: von der Vereinzelung in die Verbindung.
– Nina Gurol –
Neue Musikzeitung nmz
„Ehsan Ebrahimi bringt mit seiner neuen Komposition POLYpontes die professionellen Perspektiven (post-)migrantischer Musik in innovativer Auseinandersetzung mit Neuer Musik und alternativer Aufführungspraxis hier in der UNESCO City of Music Hannover zu Gehör.
POLYpontes baut Brücken zwischen persischer und europäischen Musiktraditionen, setzt Verbindungen zwischen Musik aus der Vergangenheit und der Zukunft und stellt den Klang in eine visuelle Inszenierung.
Musik ist hier nicht nur einfach Musik!
Die Musiker*innen unterschiedlicher Herkunft und kultureller Zugehörigkeit des asambura ensembles verleihen der Musik einen übergeordneten Sinn: Musik als Chance für den interreligiösen Dialog, als Zeichen der Versöhnung, als Zeichen für ein friedvolles und respektvolles Miteinander, Musik als Spiegel einer kulturell diversen sozialen, gesellschaftlichen und politischen Gegenwart.“
– Belit Onay –
Oberbürgermeister Hannover
„Das asambura ensemble spielt für das Musikleben eine besondere Rolle, weil es immer wieder darauf bedacht ist, Brücken zu schlagen und über den eigenen Wirkungskreis hinaus aktiv zu werden.
Die Frage nach der Öffnung des Musiklebens und die erhöhte Aufmerksamkeit für Regionen außerhalb Europas ist eine der wichtigsten Fragen, der wir uns derzeit zu stellen haben.
Auch das macht dieses Konzert so bedeutsam, dass es daran mitwirkt, dass sich verschiedene Kulturen begegnen, wobei nicht nur die musikalische, sondern auch gesellschaftliche und politische Aspekte dieser Kulturen hervortreten.“
– Björn Gottstein –
Ernst von Siemens Musikstiftung












